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Pole-Pole / Montessori reloaded auf Sansibar
Maria Montessori wäre begeistert. Was die Reformpädagogin seit Anfang des 20. Jahrhunderts propagiert, „Hilf mir, es selbst zu schaffen.“, zieht SHAFII M. HAJI aktuell auf Sansibar durch. Der Sansibari und Selfmade-Schulleiter holt Kinder und Jugendliche von der Straße und gibt ihnen Perspektiven. Wir besuchten die Zanzibar Learning for Live Foundation (ZL4LF) in Stonetown, der Hauptstadt von Sansibar.
Wer hier ankommt, den trifft sofort die Keule. Ein Gemisch aus Hitze, Schönheit und dem verfluchten Überlebenskampf, der den Schwarzen aufgezwungen wurde. Heute leben die Menschen auf Sansibar in einer historisch bedingten Krise und kommen nur schwer aus ihr raus. Aber Pole-pole heisst in Swahili, der ursprünglichen tansanischen Landessprache: langsam, langsam, wird schon! Eine gewisse Gelassenheit braucht man auf Sansibar, der Insel vor Tansania.
Die Republik Tansania hat rund 50 Millionen Einwohner und ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Höhe von 695 USD (Deutschland: 46.267 USD), die Korruption im Land ist groß. Bekannt ist, dass es einen Grund gibt für Armut und Korruption und dass es Aufgabe aller westlichen Länder sein sollte, diese Gründe zu kennen. Um dann zu entscheiden, ob und wie man helfen will.
Erweiterte Bildungsangebote
Die Foundation ist eine von vielen Zusatzschulen der Insel, in denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene nach dem Besuch der staatlichen Schulen erweiterte Bildungsangebote wahrnehmen. Über eine Kopplung zwischen dem Düsseldorfer Softwareunternehmen synetics und der IT-Spendenorganisation labdoo.org hatten wir zwei Laptops für die ZL4LF im Gepäck. Spenden mit Hintergrund wie die mit rund 40 GByte an Lernsoftware, Wikis, und Selbsthilfe-Software vollgepackte Hardware, bringen den rund 250 Schülern der ZL4LF Hilfe, Bildung und Hoffnung.
Die ZL4LF arbeitet im östlichen Stadtteil Fuoni von Stonetown. Shafii M. Haji, Nickname Gasica, ist der Direktor dieser 2010 gegründeten Einrichtung. Hier erhalten insgesamt 250 Schülerinnen und Schüler zwischen 8 und 35 Jahren Zusatzunterricht in den Fächern Englisch, Deutsch, Mathematik, Computer und Ernährung. Als Lehrer arbeiten hier Freiwillige aus dem meist europäischen Ausland, aber auch ehemalige Schüler der ZL4LF. Die Kinder und Jugendlichen haben ihre Eltern verloren oder stammen aus Familien, die ihnen nicht mehr helfen können oder wollen.
Erfahrungen weitergeben
Die ZL4LF liegt genau in einem der Problemgebiete im Osten von Stonetown. Aber sie ist ein Ort der Hoffnung. Hier wird Zuversicht, Hilfe zur Selbsthilfe und Kooperation praktiziert. In der Einrichtung bekommen die Kinder und Jugendlichen weiterführenden Unterricht. Dieser ist Gasica zufolge notwendig, weil die staatlichen Schulen nicht über die, sagen wir, notwendigen Ressourcen verfügen. Also gehen die Kids generell in Aufbauschulen – aber die sind teuer. In der ZL4LF bekommen sie ihre Zusatzausbildung zu guten Bedingungen: sie zahlen, was sie können – wenn sie können. Das Wichtigste ist aber: sie geben ihre Erfahrungen weiter.
Beispiel Khalfar, 19, der nach seinem Mittelschul-Abschluß in die Foundation kam: Wenn die Kinder 18 sind und keine Eltern haben, werden sie von der Regierung auf die Straße gesetzt, positiv ausgedrückt: müssen allein zurechtkommen. Hier holt Gasica einige von ihnen ab, auch Khalfar, und hilft ihnen, ihren Weg zu machen. „Die Leute haben Energie, sie brauchen aber Mentoren, die sie auf die richtige Spur bringen.“
Auf Sansibar geht nichts schnell
Katharina Höfer, 25, Tina Tallen, 26, Jonathan Becker, 17, Rainer Maroska, 70 und Alexander Krüger, 47, sind die gegenwärtigen Freiwilligen aus Deutschland. Sie leisten in der ZL4LF einen zwei- bis vier-monatigen Hilfsdienst. Alle wurden von der Organisation World Unite! (www.world-unite.de) vermittelt.
Rainer und Alex unterrichten von 14-19 Uhr Deutsch und Englisch. Den Vormittag nutzen sie für die Organisation ihres Arbeitsalltags, also für den Haushalt in der von World Unite gestellten Wohngemeinschaft im Zentrum von Stonetown, vor allem aber für Unterrichtsvorbereitung. Diese, ohnehin aufwändig, nimmt auf Sansibar noch einmal deutlich länger in Anspruch. Alex dazu: „Nichts geht hier schnell. Kopieren dauert hier gerne mal 1 Stunde und mehr, weil Blätter einzeln eingelegt und Tonerkartuschen umständlich ausgetauscht werden. Die Hitze macht alle müde.“ Aber ermüdend ist auch der Zwang zur Improvisation, der beim Einsatz nicht ganz taufrischer Geräte automatisch einsetzt.
Lernen, was „gesund“ bedeutet
Katharina und Tina sind ausgebildete Krankenschwestern und studieren „Pflege- und Gesundheitsmanagement“ in Münster. Sie geben in der Foundation Unterricht in „Chakula Hai“. Das ist ein Ernährungsprogramm, das von der ZL4LF und der Daraja Foundation (www.darajafoundation.com) angeboten und unter anderem bei der Parma Culture Gesellschaft im Panga Chumvi Beach Resort in Matemwe im Norden von Sansibar gelehrt wird. Schülerinnen und Schüler der ZL4LF, die in Restaurants arbeiten werden, bekommen von Tina und Katharina den richtigen Umgang mit Lebensmitteln beigebracht. Sie lernen, was „gesund“ bedeutet, nämlich vitaminerhaltend zu kochen und nachhaltig zu wirtschaften.
Das Grundprinzip der Foundation: Train the trainer. Wer etwas erworben hat, Wissen oder Fertigkeiten, der teilt es mit den anderen. Alex: „Wir sind alle überzeugt davon, dass diese Idee weiterläuft, dass es funktioniert.“ Alles ist auf Teilen, Verantwortung und Nachhaltigkeit ausgerichtet.
Perspektivprojekt Bikeshop
Raus aus dem klimatisierten Hotel, rein in die brütende Hitze, den Staub und den beißenden Geruch verbrannter Autoreifen. Wie kann man allein vom Stehen nur so schwitzen? Abdul Karim Suleiman Ali, 18, steht da drüber. Er ist stolzer Geschäftsführer des Bike-Shops „Zanzibar Bicycles 4 Life“, einem der aktuell zwei Ausgründungen der Foundation. Der Shop ist nicht so einer, wie wir ihn kennen. Sondern ein sehr einfacher Laden am Straßenrand, aber mit Tresen und ausgestellten Ersatzteilen. Und mit zurechtgemachten Fahrrädern für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Den Shop haben Gasica und Abdul am 18. August 2015 eröffnet. Heute wirft er mit Fahrradhandel, Ersatzteilverkauf und Reperaturen für Abdul und seinen Compagnon Shabawi Khamis Haroub, 21, jeweils ein Gehalt von rund 150.000 Tazania Schilling ab, umgerechnet etwa 75 Euro pro Monat. Davon kann man auf Sansibar bescheiden, aber immerhin in Würde leben. Abdul und Shabawi bekommen einmal pro Jahr von der kanadischen Organisation „Bycicles for humanity“ (http://b4h-calgary.org/Welcome.html) kostenlos einen Container mit rund 450 gebrauchten Rädern. Der steht dann hinter dem Laden und wird nach und nach leergeräumt.
Kundenpflege auf Sansibarisch
Der erste Container wurde komplett verkauft oder in Ersatzteile umgewandelt. Das wirft übrigens nicht nur das Gehalt der beiden Geschäftsführer ab, sondern es fließt auch ein Teil an die ZL4LF zurück. Das gehört zum Prinzip des Projekts, das sich Angaben Gasicas zufolge zu je 50 Prozent aus eigenerwirtschaftetem Geld und aus Spenden finanziert.
Ein gebrauchtes Kinderrad kostet bei Abdul und Shabawi 35.000 TSH (18 Euro), eins für Erwachsene 85.000 TSH (43 Euro), erklärt Abdul stolz. Ein neuer Radmantel ist bei den Beiden für 7.000,- TSH (3,50 Euro) zu haben. Marketing? „Machen wir auch!“ Es gibt eine Facebook-Seite (https://www.facebook.com/zanzibarl4lf/) und man nutzt den Empfehlungs-Effekt: Wer auf Empfehlung eines bestehenden Kunden kommt, erhält Prozente. Und wer viel kauft, ebenso. „Pro Monat kommen rund 20 Kunden, darunter sogar auch Leute vom Mainland Tanzania“, sagt Abdul. Der Laden selber kostet übrigens 1,2 Mio. TSH (600 Euro) im Jahr.
Freilaufende Hühner und Biogemüse
Zweites ZL4LF-Projekt ist die Chicken-Farm. Abdulla Mohammed Omar, 25, stammt von der nördlichen Nachbarinsel Pemba und betreibt etwas weiter außerhalb der Stadt die Zanzibar Chicken 4 Live Farm. Derzeit hält er zusammen mit seinem Co-Geschäftsführer Sef rund 70 Hühner. Gegründet im Mai 2016, verkaufen sie derzeit alle 3-4 Tage etwa 30 Eier über den lokalen Verkauf. Alle anderen Eier werden zu einem Brutofen gebracht und dort ausgebrütet. Die Küken kommen zurück auf die Farm in Fuoni, werden dort großgezogen und gehen ebenfalls in den Verkauf. Dritte Erwerbsquelle von Abdulla wird der Verkauf von Biogemüse. Der Anbau von Spinat, Ocra, Egg Plant und Tomaten läuft gerade an, und soll möglichst bald genau wie der Bikeshop zur Verbesserung der Einnahmesituation beitragen.
2014 war Abdulla arbeitslos – mit 21. Glücklicherweise kam er zur ZL4LF und lernte erst Englisch, dann bei der Parma Culture Gesellschaft den Anbau von Biogemüse. Beide Wissensgebiete gibt er heute an seine Mitschüler weiter und kann damit sein Englisch verbessern. Hier taucht wieder das Prinzip Train the Trainer auf: Wer etwas hat, kann auch was geben. Bis er etwas hat, wird er unterstützt. – Um irgendwann das Rad ans Laufen zu bringen, was viele jeden Tag ein Stückchen unabhängiger, freier macht, ihnen Mut macht, und eine Perspektive gibt. Für Abdulla heisst das: Wieder auf die Beine kommen, eine Perspektive haben. „Ich habe etwas für mein Leben bekommen, dafür bin ich sehr dankbar. Gasica gab mir Hoffnung!“ Er und Sef haben genauso wie Abdul und Shabavi jeweils ein Monatseinkommen von 150.000 TSH.
Afrikanische Business Angels
Woher bekommt Shafii M. Haji die Inspiration, wie setzt er sich seinen Weg zusammen? Zum Beispiel mit Mentoren. Bei der African Management Initiative (www.africanmanagers.org) in Arusha. Dort trifft er etwa alle drei Monate und zwischendurch online zwei Lehrer, mit denen er seine Pläne besprechen und auf Umsetzbarkeit abklopfen kann. Hier kann er Fragen stellen, die sich aus dem Umgang mit Behörden oder durch Schwierigkeiten mit der Finanzierung ergeben. Hier erhält er auch Ideen und Kontakte für die Erweiterung seines inzwischen rund 100 Kontakte umfassenden Netzwerks.
Gasica finanziert sich über Einnahmen aus Beratung für eine Schule der Regierung, die Probleme mit den Abschlüssen hat: fast alle schaffen die Abschlußprüfung nicht – zu wenig Edukation und Motivation. Seit er für die Schule arbeitet, steigt die Abschlußrate. Auch das ein guter Teilerfolg: Gasica verkauft seine Erfahrung im Betrieb von Bildungseinrichtungen.
Teammeetings – auch auf Sansibar
Jede Woche findet Abends ein Teammeeting im Büro der ZL4LF statt. Anwesend sind Arshee Ali, 20 und Rhyyan Khelef, 20. Arshee ist Englischlehrerin, sie hatte bereits ein Stipendium für einen zwölfmonatigen USA-Aufenthalt, in dem sie in US-Familien lebte und ihr Englisch perfektionierte. Sie will unbedingt in Europa oder USA Medizin studieren, ist aber auf ein Stipendium angewiesen. Ihre Eltern können das Geld nicht aufbringen. Rhyyan ist die Bürochefin in der ZL4LF und kümmert sich um die kleine Bibliothek im Haus. Mit im Team sind Abdulla Mohammed Omar, der Chef der Chickenfarm, Khamis Othman, Englischlehrer, und Abdul Karim Suleiman, der Leiter des Bike-Shops.
Die IT-Lehrer der ZL4LF, Ramadhan Utingo, 37, und Sadia Mashamu Sadia, 32, beide auch Englischlehrer, verwalten die inzwischen 6 Laptops und 6 Desktops und geben auf den Rechnern Unterricht in Word, Excel und Access. Mehr nicht. Die Labdoo-Software wird leider, und trotz eindringlicher Hinweise auf deren Qualität, nicht eingesetzt. Dafür fehlt, wenn man so will, das pädagogische Konzept.
Hakuna Matata! Swahili für „Mach dir keine Sorgen“
Die Leute, die am Straßenrand neben Obst und Gemüse allerlei Tand verkaufen, heissen in Tanzania „Machinga“, nach den Leuten aus dem Süden des Landes, arme Leute. Häuser, in denen kleine, wirklich sehr kleine Geschäfte abgewickelt werden, nennt man „Machinga Complex“. Ein Komplex im positiven Sinn ist Gasicas ZL4LF noch nicht, will es aber auch nicht werden. Sondern ein Korrektiv.
Alle Fotos © Konrad Buck